Parlamentarismen
Antrag und Auftrag
„Wir fordern die SPD-Bundestagsfraktion auf, . . ." — der Vorsitzende hat die vom Orts-vereinsvorstand vorgelegte Entschließung vorgelesen, die Mitglieder des Ortsvereins haben eine Weile darüber diskutiert, ein Änderungsantrag der Jusos wurde teilweise berücksichtigt, nun wird abgestimmt. Einer stimmt dagegen (er ist immer dagegen), die Jusos enthalten sich, weil ihre kritische Anmerkung zum Bundeskanzler herausgestrichen wurde. „Wir fahren fort in der Tagesordnung . . ."
So beschließen Woche für Woche Ortsvereine der SPD Resolutionen an die SPD-Bundestagsfraktion. Bei Unterbezirkskonferenzen, Landesparteitagen, Fachkonferenzen ist es nicht anders. Lebendige Demokratie?
Ich habe in sechs Bundestagsjahren nicht einmal ein Dutzend solcher Beschlüsse auf den Tisch bekommen. Oft frage ich midi, wo denn diese Beschlüsse bleiben. Ich habe selbst jahrelang Anträge an die SPD-Bundestagsfraktion bei meiner UB-Konferenz und auf dem Landesparteitag gestellt und mit beschlossen, ohne diese Anträge als Abgeordneter jemals wieder gesehen zu haben, Ist das alles nur demokratische Selbstbefriedigung oder Gschaftlhuberei einer Organisation, die ihre Beschlüsse selbst nicht ernst nimmt?
Die Drogisten und der Naturschutz, der Bundesverband der Mühlenbesitzer und die Beamtenlobby, die Energiewirtschaft und die Kleintierzüchter, Hausbesitzer und Diakonissen — sie alle wenden sich an den Bundestag, 518 mal. Jeder Abgeordnete bekommt das in sein Fach, Stöße von Papier, Woche für Woche. Nur von der eigenen Partei hörst und siehst du nichts. Du kannst gerade noch mitverfolgen, was in deinem ÜB läuft, vom Nachbarwahlkreis bereits hörst du nichts. Du liest in der Zeitung, daß es auf dem Hamburger Parteitag Krach gab wegen des Extremistenerlasses, aber den Beschluß der Hamburger Genossen bekommst du nicht. Der Bundeskanzler ist da gründlicher, er verschickt seine beiden Hamburger Reden — leider nicht die Gegenrede von Klose — an alle Abgeordnete der Fraktion. Von dem, was Woche für Woche an Beschlüssen hereinkommt, was Gradmesser sein könnte für Stimmung und Meinung, Lob und Kritik der Partei, erfährt die Fraktion nichts. Der Vorstand? Will der Vorstand, will die Fraktion überhaupt wissen, was die Partei denkt und diskutiert?
Einmal schlug das Echo der Partei durch bis hinaus in den Fraktionssaal. Beim Rentenstreit nach der Bundestagswahl. 1976 ging eine Flutwelle von Briefen, Telegrammen, Anrufen auf die Fraktion nieder. Sie war so stark, daß der Plan der Bundesregierung, die Renten erst ein halbes Jahr später zu erhöhen, am 9. Dezember 1976 von der Fraktion vom Tisch gefegt wurde. Einmal — in sechs Jahren!
' Dabei wäre das alles ganz einfach: Der Ortsvereinsvorsitzende, der UB-Sekretär, der leitende Landes- geschäftsführer — sie müßten den an die SPD-Bundestagsfraktion gerichteten Beschluß nur 224 mal durch die Abziehmaschine laufen lassen und an die Postverteiler stelle der SPD-Bundestagsfraktion, 5300 Bonn l. Bundeshaus, schicken. Vorwärts-MdB