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Die sozialdemokratische Integration der 68er


Jeanette Seiffert: "Marsch durch die Institutionen? Die 68er in der SPD". Bouvier.


Die 68er erfuhren anlässlich des 40. Jahrestags der Studentenunruhen im vorvergangenen Jahr breite publizistische Würdigung. Ein Buch, das sich dezidiert mit den 68ern in der SPD befasste, fehlte jedoch bislang. Hat es uns wirklich gefehlt?

Andruck · 08.03.2010

"Die 68-er in der SPD"

(Sendung des Deutschlandsfunks am 08.03.2010 · 19:15 Uhr)
 
Studentenführer Rudi Dutschke bei einer Demonstration in Berlin im April 1968 (Bild: AP Archiv)

Die sozialdemokratische Integration der 68er

Jeanette Seiffert: "Marsch durch die Institutionen? Die 68er in der SPD". Bouvier.

Von Willy Reiter

Die 68er erfuhren anlässlich des 40. Jahrestags der Studentenunruhen im vorvergangenen Jahr breite publizistische Würdigung. Ein Buch, das sich dezidiert mit den 68ern in der SPD befasste, fehlte jedoch bislang. Hat es uns wirklich gefehlt?

Sie protestierten gegen den Vietnamkrieg und gegen die rigide Sexualmoral. Sie gingen gegen den Muff von 1000 Jahren auf die Straße und forderten eine konsequente Aufarbeitung der Nazi-Zeit. Es herrschte eine fast-revolutionäre Atmosphäre in Deutschland. Unzählige Bücher sind seitdem erschienen. Wurde damit die Studentenrevolte, der 68er-Mythos, nicht ausreichend und erschöpfend thematisiert? Nein, meint die Kölner Historikerin Jeanette Seiffert.

"In der überwiegenden Mehrzahl der Veröffentlichungen ging es allenfalls am Rande um eine ernsthafte historische Aufarbeitung, sondern vielmehr um die Bewertung dessen, was die Studentenbewegung in der Gesellschaft bewirkt hat."

Eine ernüchternde Bilanz, stellt die Historikerin fest:

"Waren bei früheren Jubiläen der Studentenbewegung noch vor allem die positiven Aspekte, wie etwa die gesellschaftliche Liberalisierung, herausgestellt worden, so schlug das Pendel in den vergangenen Jahren heftig in die andere Richtung aus. Scheidungszahlen, Drogenkonsum, Sprach- und Entwicklungsstörungen bei Kindern, Pisa-Schock: Kaum eine gesellschaftliche Entwicklung, die nicht den 68ern angelastet worden wäre."

Jeanette Seiffert will sich mit ihrem Buch nicht in diese Schuldzuweisungen einreihen. 40 Jahre nach Ende der Studentenrevolte sei diese Zeit wissenschaftlich nur äußerst rudimentär aufgearbeitet worden.

Seiffert fragt in ihrem Buch: Wer waren die '68er' eigentlich? Welche Ziele hatten sie? Was haben sie erreicht - insbesondere in der SPD? Waren die '68er' eine homogene Gruppe? Und was ist aus ihrem Marsch durch die Institutionen geworden? Oder war es eher ein Abmarsch in die Institutionen? Und schließlich die Frage: Wer hat wen verändert: Die '68er' die Institutionen oder umgekehrt, die Institutionen die ehemaligen Revoluzzer?

Insbesondere in der SPD sahen viele '68er' die Chance, ihre politischen Ziele zu erreichen. Zu Tausenden strömten junge und engagierte Männer und Frauen in die sozialdemokratische Partei und mischten sie auf. In der ersten Hälfte der 1970er-Jahre war jedes zehnte Mitglied im Juso-Alter. Heute sind es gerade mal knapp an die sechs Prozent.
Die damaligen kampferprobten Genossen wussten zunächst gar nichts mit den politisierten jungen Menschen anzufangen. Als Kronzeugin lässt Seiffert die spätere Justizministerin Herta Däubler-Gmelin zu Wort kommen:

"Ich bin also in das Parteibüro in meiner Wohngegend gegangen und habe gesagt: 'So, hier bin ich, ich will eintreten'. Daraufhin meinte sie, ich sollte mal einen Aufnahmeantrag ausfüllen. Dann haben sie offensichtlich bei der Berufsbezeichnung gelesen: 'Studentin' und daraufhin habe ich einige Monate lang nichts mehr davon gehört. Dann bin ich noch mal hin und habe gesagt: 'So, jetzt habt ihr noch genau eine halbe Stunde Zeit, euch zu entscheiden, sonst komme ich nie wieder.' Die wollten damals keine Studenten. Denen war das durch Willy Brandt und das neue Politikverständnis ausgelöste Interesse anderer Bevölkerungskreise eher suspekt."

Neben Däubler-Gmelin interviewte die Historikerin weitere 19 Zeitzeugen, die in der 68er-Zeit sozialisiert wurden, in die SPD eintraten und von dort aus die Gesellschaft verändern wollten. Dazu zählten unter anderem auch Karsten Voigt, Klaus-Uwe Benneter, Friedhelm Hilgers und Anke Brunn. Ihre beruflichen Biografien verliefen äußerst unterschiedlich. Die einen machten Karriere, die anderen kamen nicht so richtig voran. In ihrem biografischen Forschungsansatz spürt Seiffert diesen politischen Laufbahnen bei ihrem Marsch durch die Institutionen hinterher. Dabei stößt die Historikerin unweigerlich auf die praktische, aber auch politisch-philosophische Frage: Wie funktioniert eigentlich eine politische Partei? Ist in einer Partei innerparteiliche Demokratie, wie es viele '68er' erhofften und forderten, möglich? Jeanette Seiffert:

"Die Frage nach der Verwirklichung innerparteilicher Demokratie in westeuropäischen Parteien wird in der Forschung sehr unterschiedlich bewertet. Während die einen eine umfassende Partizipation aller Parteimitglieder an der innerparteilichen Willensbildung als Grundlage einschätzen, sehen andere dies eher als hinderlich, ja dysfunktional für eine effektive Parteiarbeit an, da es die Handlungsfreiheit der Parteiführung einschränkt und damit die Flexibilität der Organisation behindert: Demokratische Willensbildung steht hier, Wählerstimmenmaximierung und Effizienz dort im Mittelpunkt."

Anders formuliert: Verläuft die Willensbildung in einer Partei von oben nach unten oder von unten nach oben?

"Der Umgang der SPD mit den '68ern' hatte zwei unterschiedliche Stoßrichtungen: Zum einen zeigte sie den 'jungen Wilden' demonstrative Offenheit und war bereit, ihnen schon früh innerparteiliche Ämter und Mandate zu übertragen. Zum anderen aber begegneten sie den '68ern' mit einer Fülle von Disziplinierungsmaßnahmen. Man kann von einem System der 'restriktiven Toleranz' sprechen."

Zuckerbrot und Peitsche. Als Helmut Schmidt Willy Brandt als Bundeskanzler ablöste, sei der 'Linksruck' innerhalb der SPD endgültig gestoppt worden. Seiffert:

"Der innerparteiliche Gegenwind, der sich bereits Anfang der siebziger Jahre vor allem in Form vielfältiger administrativer Restriktionen aufgebaut hatte, blies den '68ern' mit dem Kanzlerwechsel nicht unbedingt stärker, aber doch sehr viel offener entgegen."

Etliche junge Genossen seien mit Parteiordnungsverfahren überzogen worden. Einig mussten gehen, wie zum Beispiel der damalige Juso-Chef Klaus-Uwe Benneter. Er kehrte jedoch später als braver Parteisoldat zurück und avancierte unter Gerhard Schröder zum Generalsekretär. Abschließend die Frage: Wer hat wen verändert? Die Partei die Personen oder umgekehrt? Jeannette Seifferts Fazit:

"Die SPD kann also durchaus mit Berechtigung darauf verweisen, die '68er' erfolgreich in die Partei integriert zu haben."

Personell, so Seiffert, sei der Marsch durch die Institutionen äußerst erfolgreich verlaufen. Inhaltlich aber hätten die '68er' wenig bleibende Spuren hinterlassen. Die persönliche Karriere innerhalb der Partei sei wichtiger geworden, als die anfangs propagierten Inhalte.

Zu ihren politischen Wurzeln hätten einige SPD-68er erst dann wieder zurück gefunden, als das nahende Rentenalter in Sichtweite war:

"Je näher die untersuchten Personen dem Ende ihrer politischen Laufbahn kamen, desto mehr schwand der Zwang, sich an die Parteilinie anzupassen."

Ein ernüchterndes Fazit, das jungen Menschen das Engagement in Parteien nicht gerade schmackhaft macht. Die heutige Politik- und Parteienverdrossenheit hängt auch mit diesen parteiinternen Beharrungskräften zusammen.

Wer das Innenleben der SPD besser verstehen möchte, der greife zu Jeanette Seifferts Buch. Lesenswert.

Jeanette Seiffert: Marsch durch die Institutionen? Die 68er in der SPD. Bouvier, 420 Seiten, 29,90 Euro
ISBN: 978-341603285-8